Ich will nicht lügen. Als ich Maryam Rafiee per E-Mail um ein Interview bat, hatte ich ein bestimmtes Bild von ihr vor Augen. Ich sah eine junge, schüchterne Frau vor mir, die auf ei- nem Orientteppich kniet und betet, ihr Körper von bunten Tüchern verschleiert. Keine Frage, ein absolutes Klischee, ein Vorurteil, ein Stereotyp. Aber wer denkt denn nicht bei Russland an Wodka und bei Amerika an Fast-Food? Vorurteile hat jeder. Es kommt darauf an, wie man damit umgeht. Ich entschied, meine Vorurteile durch dieses Interview zu widerlegen. Und wie ich sie widerlegen konnte. Als ich Maryam das erste Mal kontaktierte, bekam ich prompt ihre Telefonnummer für WhatsApp und wurde fortan liebevoll „Honey“ von ihr genannt. Ich lern- te eine offenherzige, ehrliche 27-jährige Frau kennen, die für mehr Rechte bereit war, Risiken einzugehen und der Ansicht ist, auch ohne Gott und Gebete Herausforderungen bewältigen zu können. Ein Interview, das sich mehr wie eine Unterhaltung mit einer Freundin anfühlte, über Nasenoperationen, heimliche Partys und die Hoffnung auf Freiheit.

Wie sieht dein nächster großer Schritt in deinem Leben aus?
Im Moment lebe ich in Shiraz, einer der größten Städte im Iran. Allerdings möchte ich ins Ausland gehen, nach Amerika. Ein Teil meiner Geschwister lebt bereits dort und ich vermisse sie sehr. Im Augenblick lerne ich Englisch, damit ich den Iran nächsten Herbst mit meinem kleinen Bruder verlassen kann. Ich habe hier in Shiraz meinen Universitätsabschluss in Innen- architektur und Sportwissenschaften gemacht. In Amerika würde ich dann gerne meine Aus- bildung in Innenarchitektur vertiefen, um danach einen passenden Beruf in diesem Bereich zu finden. Ich habe, in vielerlei Hinsicht, weitaus mehr Möglichkeiten in Amerika als hier.

Wie läuft ein gewöhnlicher Abend mit deinen Freunden ab?
Die meisten meiner Freunde sind bereits verheiratet und können nicht mehr so viel Zeit mit mir verbringen wie früher. Meistens gehen wir spazieren, gehen in ein Café oder ins Ki- no. Manchmal fahren wir auch einfach im Auto durch die Straßen. Wir versuchen immer an Orten zu sein, an denen wir uns wohl fühlen. Dort können wir am besten miteinander reden.

Also gehst du nicht wirklich auf Partys?
Nein. Das heißt aber nicht, dass ich keine Parys mag. Meistens habe ich einfach keine Zeit, um mit meinen Freunden feiern zu gehen. Um ehrlich zu sein, verbringe ich sowieso mehr Zeit mit meiner Familie als mit meinen Freunden.

Hast du eingeschränkten Zugriff auf das Internet? Kannst du soziale Netzwerke problemlos benutzen?

Die meisten Internetseiten sind nicht erlaubt, weswegen sie nur schwer zugänglich für mich sind. Ich benötige ein spezielles Computerprogramm um soziale Netzwerke benutzen zu können. Ich benutze beispielsweise Freegate1 um auf Facebook, Twitter, Google+ und andere Seiten zugreifen zu können. Instagram kann ich zum Glück ohne Probleme benutzen. Es klingt komisch, aber es ist tatsächlich schwierig für mich etwas aus dem Internet zu lernen, wenn alle Seiten verboten sind. Ich habe sogar Probleme, Songtexte zu finden! Es ist ermü- dend, wenn ich etwas auf Google suchen will und keine Antwort finde. Auf der anderen Seite stellen soziale Netzwerke auch ein Problem dar. Ungebildete oder unkultivierte Menschen verhalten sich sehr schlecht im Internet. Sie verwenden Schimpfwörter und machen sich bei- spielsweise über prominente Personen aus dem Iran lustig. Ich glaube, die meisten dieser Menschen sind arbeitslos. Hätten sie einen Beruf, hätten sie nicht mehr so viel freie Zeit zur Verfügung, um sich über andere lustig zu machen.

Wieso verbietet der Staat die meisten Seiten im Internet?
Weil das Staatsoberhaupt nicht will, dass die Menschen im Iran mehr Rechte haben. Die Regierung kann ihre falschen Gesetze und Regeln problemlos weiter ausführen. Meine Ver- wandten sind beispielsweise alle gegen die Regierung, können aber nichts dagegen tun. Ich höre zwar dauernd, wie sich die Menschen im Iran über das Regime beschweren, aber sie tun es nicht vor jenen, die für das Regime sind.

Weil sie verhaftet werden würden, wenn sie sich beschweren, oder?
Natürlich! Sie würden sofort verhaftet werden. Ich wurde einmal nur wegen meiner Kleidung verhaftet. Also kannst du dir vorstellen, wie es wäre, wenn sich jemand über die Regierung beschweren würde.

 

Du wurdest nur wegen deiner Kleidung verhaftet?

Ja. Mein Manto2 war nicht zugeknöpft und man hat meine Kleidung darunter gesehen. Nur deswegen haben sie mich ins Gefängnis gesteckt. Ich habe die ganze Nacht geweint, es war schrecklich.

War das das einzige Mal, dass du verhaftet wurdest?
Ja. Ich bin allerdings ziemlich risikofreudig. Als die Menschen 1988 im Iran gegen den Präsidenten protestierten, habe ich auch mitgemacht. Die Polizisten attackierten mich mit Stö- cken, aber ich konnte fliehen.

Hattest du keine Angst?
Doch, ich hatte sehr große Angst. Ich würde nie wieder zu so einem Protest gehen. Ich bin nach wie vor gegen die Gesetze und Regeln im Iran, jedoch würde ich nicht mehr dagegen protestieren. Es ist viel zu gefährlich.

Was denken Menschen aus dem Iran, wie du, von den Menschen aus dem Westen?
Ich kann nicht für alle Menschen im Iran sprechen, doch ich glaube viele von uns sind gegen die Menschen aus dem Westen. Wir mögen ihre Meinungen, ihren Glauben und ihre Religion nicht. Sie haben unser Land angegriffen, unsere Menschen umgebracht und uns ihre Religion auferlegt. Sie haben uns krank gemacht mit diesem Krieg und seine Folgen spüren wir Tag für Tag. Jetzt reden die meisten Menschen über den Iran vor der Revolution. Oder als wir noch außergewöhnliche Führer wie Kyros II hatten.

Wenn du jedoch größtenteils gegen die Menschen aus dem Westen bist, wieso willst du dann nach Amerika?
Weil sie uns hier verrückt machen. Wir haben keine Freiheit! Ich bin hier nicht sicher. Es macht mich unglaublich traurig, hier alles zurückzulassen. Doch obwohl die Beziehung zwi- schen dem Iran und Amerika nicht gut ist, werden wir dort sicherer sein als hier. In Amerika können wir nicht wegen unserer Kleidung oder unserer Meinung verhaftet werden. Im Iran schon.

 

Bist du religiös? Was bedeutet dir die Religion im Iran?

Ich glaube an Gott. Aber ich bin nicht religiös. Ich denke, wenn du einfach versuchst ein guter und freundlicher Mensch zu sein und dein Leben unter Kontrolle hast, kannst du auch glücklich sein, ohne dauernd beten zu müssen. Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass ständiges Beten oder Gott um Hilfe bitten dir in schwierigen Situationen nützlich sein wird. Ich glaube, dass du es bist, der Herausforderungen und Schwierigkeiten bewältigt und seine Gefühle steu- ert.

Wie findest du es, dass Frauen ihre Körper und Haare in der Öffentlichkeit unter Kleidung verschleiern müssen?
Ich finde es lächerlich. Es ist genau das Gegenteil von Frauenrechten. Menschen sollten selbst entscheiden dürfen, wie sie sich anziehen wollen. Es ist absurd, dass wir unsere Körper in der Öffentlichkeit bedecken müssen. Außerdem ist es absolut unfair, dass Männer anziehen können, was sie wollen und Frauen nicht. Obwohl ich sagen muss, das auch Männer manch- mal wegen ihrer Kleidung verhaftet werden.

Wie verhalten sich Männer und Frauen eigentlich gemeinsam in der Öffentlichkeit?
Meistens benehmen sie sich ganz normal. Paare dürfen Händchen halten. Sich zu küssen ist allerdings verboten. Wenn die Personen, die sich küssen, sehr jung sind, könnten sie even- tuell auch verhaftet werden.

Hattest du bereits eine Schönheitsoperation?
Ja, ich hatte eine Nasenoperation, als ich 23 Jahre alt war. Ich hatte eine sehr große Nase, jeder hat sich darüber lustig gemacht. Ich habe deswegen oft geweint. Meine Familie ermutig- te mich dazu, mich zu operieren, obwohl ich große Angst davor hatte.

Also wollte deine Familie, dass du deine Nase operierst?
Sie wünschten sich, dass ich nicht mehr schüchtern bin und mich schön fühle. Sie wollten, dass sich niemand mehr über mich lustig macht. Ich hatte wegen meiner großen Nase gar kein Selbstbewusstsein. Also habe ich meine Angst überwunden und mich operieren lassen.

Stimmt es, dass viele Menschen noch sehr jung sind, wenn sie sich operieren lassen?

Viele Iraner und Iranerinnern sollen bei ihren ersten kosmetischen Operationen erst 16 oder 17 Jahre alt sein. Ich denke nicht, dass das stimmt! Sich mit 16 oder 17 Jahren zu operieren wäre schon sehr früh. Zumindest hat sich niemand in meinem Verwandtenkreis schon so früh Schönheitsope- rationen unterzogen.

Wieso sind Schönheitsoperationen unter jungen Menschen im Iran so beliebt?
Ich glaube, das liegt an einem Konkurrenzkampf. Man ahmt sich gegenseitig nach. Ich kenne Mädchen mit schönen Gesichtern und Körpern, die trotzdem darauf bestehen, sich Schönheitsoperationen zu unterziehen. Das Aussehen ist unglaublich wichtig für iranische Frauen.

Es ist also vollkommen normal in Familien, dass deren Kinder sich operieren lassen?
Naja, nicht ganz normal. Es kommt darauf an. Ich habe eine Freundin, die eine schöne Nase hat, sich aber trotzdem operieren lassen will. Ihre Mutter erlaubt es ihr allerdings nicht. Ich habe auch einen Cousin, dessen Familie ihm Schönheitsoperationen verbat. Also hat er sich einfach heimlich operieren lassen.

Ich kenne keinen Mann in meinem Bekanntenkreis, der jemals daran gedacht hat, sich seine Nase zu operieren. 
Wirklich? Gut! Nasenoperationen werden im Iran leider immer beliebter bei Männern. Meiner Meinung nach sehen operierte Nasen bei Männern hässlich aus! Ich mag Männer mit großen Nasen.

Alkohol zu trinken ist im Iran illegal. Findest du das in Ordnung oder trinkst du trotzdem Alkohol?
Alkohol zu trinken gehört zu unseren liebsten Bräuchen an Feiertagen. Zur Yalda-Nacht, in der wir den letzten Herbsttag zelebrieren, trinken wir Wein. Aber auch zu Nouruz, dem Frühlingsfest, oder am Valentinstag. Ja, es ist illegal, weil die Regierung das behauptet. Sie schreiben uns alles vor! Sie machen unsere Ausgelassenheit zunichte und zerstören unsere

Fröhlichkeit. Sie wollen nicht, dass wir Spaß haben. Deswegen trinken wir nicht in der Öf- fentlichkeit, sondern nur heimlich an Feiertagen zuhause.

Viele Iraner und Iranerinnen feiern trotz Verboten auch heimliche Partys. Wieso ig- norieren sie die strengen Gesetze und riskieren schwerwiegende Strafen?
Diese geheimen Partys helfen uns, unsere Probleme zu vergessen. Wir können uns zumin- dest ein paar Mal im Jahr von unseren Sorgen befreien. Wir sind normale Menschen, wir brauchen Fröhlichkeit! Manchmal müssen wir eben Regeln brechen, um tun zu können, was wir wollen.

Denkst du, sie drücken durch diese Partys eine Art Wunsch nach Freiheit aus und hoffen womöglich auf eine bessere Zukunft?
Ja, wir wollen mehr Freiheit und hoffen auch auf eine bessere Zukunft. Allerdings denke ich, dass die neue Generation im Iran bereits anders denkt als die früheren Generationen. Jun- ge Menschen haben mehr Freiheiten als früher und verlangen im Gegenzug auch nicht ständig mehr. Heutzutage wollen beispielsweise viele Kinder, die noch zur Schule gehen, reisen. Mädchen wollen einen Campingurlaub machen oder mit ihren Freunden eine andere Stadt besuchen. Ihre Familien unterstützen sie mittlerweile in diesen Wünschen und geben ihren Kindern die Freiheiten, die sie brauchen. Als meine Freunde und ich noch zur Schule gingen, hätten wir uns nicht einmal getraut, unseren Familien oder selbst unseren Müttern von einem festen Freund zu erzählen.

Glaubst du, dass die Menschen im Iran jemals die gleichen Rechte und Freiheiten haben werden wie beispielsweise Menschen aus Österreich? Welche Voraussetzungen wären für eine Veränderung im Iran notwendig?
Nein, wir werden niemals dieselben Rechte haben wie ihr. Die Menschen im Iran sind Op- fer der privilegierten Bürger und des Staatsoberhaupts. Wir sind im Gegensatz zu den Men- schen im Westen in vielerlei Hinsicht eingeschränkt. Keine Voraussetzungen könnten die Regierung jemals ändern. Wenn die Menschen im Iran mehr Freiheiten und Rechte wollen, müssen sie in ein anderes Land auswandern und den Iran verlassen. Leider.

Interviewerin: Jandrisevits Anna

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